Erfahrungsbericht aus der Kirchengemeinde in Vreden

Kirchenasyl: Konsequenz der Christusnachfolge?

Pfarrheime als wichtiger Ort der Flüchtlingsarbeit in Vreden

Im Juli 2015 erreichte die Pfarrei St. Georg in Vreden ein Hilferuf. Eine syrische Mutter mit ihren beiden Töchtern befand sich in einem Abschiebeverfahren. Es gab bereits einen Abschiebeversuch, der im letzten Moment von der Polizei gestoppt wurde, da sich eine der beiden Töchter das Leben nehmen wollte. Eine zehntägige Schonfrist wurde vereinbart, sodass die Familie erst einmal zur Ruhe kommen konnte. Als uns der Hilferuf erreichte, waren bereits acht Tage dieser Frist verstrichen. Die Familie sah keine andere Mög­lichkeit mehr, als sich an die Pfarrei zu wenden und um Kirchenasyl zu bitten.

Ein Weg zum Kirchenasyl

In der Theorie kannte man natürlich die Möglichkeit eines Kirchenasyls, aber nun wurde es auf einmal konkret. Es brauchte fundierte Informationen und eine rechtliche Einschätzung. Nachdem ich mich in dieses Feld eingearbeitet hatte und wir die rechtlichen Rahmen­bedingungen und enggesteckten Vorga­ben kannten, wollten sich die Leitungs­gremien noch einmal im Konkreten mit dem Schicksal der Familie beschäftigen. Das Schicksal der Familie zu hören, hat uns alle sehr bewegt und berührt. Es war für uns eine sehr merkwürdige Situation. Auf der einen Seite stand das bisherige Schicksal der Familie und deren drohende Abschiebung (ins Ungewisse), auf der anderen Seite stellte sich aber die Frage, ob wir die hohe Verantwortung übernehmen könnten und ob wir der Familie vielleicht falsche Hoffnungen machen würden. Wir mussten dieses so persönliche Schicksal dieser einen Familie bewerten.

Eine schwere Entscheidung

In der entscheidenden Sitzung wurde lange beraten, denn es sollte über das weitere Leben einer Familie entschie­den werden. Ich würde lügen, wenn sich alle sofort zu einem Kirchenasyl bekannt hätten. Es gab auch berechtigte Zweifel an der Geschichte der Familie, denn belegen konnte sie vieles nicht. Es galt lediglich das Wort. Für andere stand fest, dass man sich nicht über das Gesetz stellen könne. Dieses sei nun einmal in dieser konkreten Situation klar und Gerichte hätten dies bestätigt. Andere wollten gerne helfen, hatten aber Angst vor der daraus folgenden Verantwortung und möglichen Nachah­mern. Für andere wiederum war klar, dass hier geholfen werden musste. Man kann sich vorstellen, wie schwer es war, zu einer Entscheidung zu kommen. Die Skepsis einiger Mitglieder war aus heutiger Sicht betrachtet sehr wichtig, denn sie sollte auch vor Übereifer und Schnellschüssen schützen. Denn eines war für uns auch klar: Wir wollten der Familie nicht das Gefühl von Sicher­heit und Schutz geben, wenn wir diese Hoffnungen nicht erfüllen könnten und sie doch abgeschoben würden. Unser Selbstverständnis als Christen war es letztendlich, das sich als verbin­dendes Element über Skeptiker und Befürworter gelegt hatte. Uns wurde klar, dass wir in allererster Linie als Christen gefragt waren. Unsere Chris­tusnachfolge bestärkte uns nicht nur in dieser Frage, sondern sie forderte uns buchstäblich auf, uns gegen die ungerechte Behandlung dieser Familie zu stellen und für diese Familie stark zu machen. Wir wollten nicht nur von Nächstenliebe sprechen, sondern wir wollten sie spürbar werden lassen. So entschieden wir uns letztlich in großer Einstimmigkeit für ein Kirchenasyl.

Eine Unterkunft musste her

Da die Zehntagesfrist bereits verstri­chen war und uns im Vorfeld klar gemacht wurde, dass ein erneuter Ab­schiebeversuch unmittelbar bevorstand, war höchste Eile geboten. Wir entschie­den uns, der Familie zwei Zimmer in unserem Pfarrheim zur Verfügung zu stellen, auch wenn dies bedeuten würde, dass zwei Räume in unserem stark ausgelasteten Pfarrheim nicht mehr zur Verfügung stehen würden. Uns schien das in zweierlei Hinsicht trotzdem sinnvoll: Zum einen wollten wir der Familie die nötige Ruhe und Privatsphäre zukommen lassen. Zum anderen wollten wir aber auch, dass die Familie in dieser Zeit nicht irgendwo isoliert lebt, sondern in einem pulsie­renden Pfarrheim Räume der Begeg­nung nutzen kann. In einer Nachtakti­on haben wir mit unseren Messdienern schließlich aus Sitzungsräumen eine Unterkunft für die Familie geschaffen.

Eine ungewisse Zeit

Die Familie fühlte sich in ihren neuen Räumen direkt wohl. Man konnte die Dankbarkeit förmlich spüren. Immer wieder sprachen sie davon, dass sie zum ersten Mal das Gefühl hätten, dass jemand ihre Geschichte glauben und sich für sie einsetzen würde. Wir nutzten die Wartezeit, um möglichst viele Informationen über die Situati­on der Familie zu sammeln und ein Dossier zusammenzustellen, welches dann über das katholische Büro in Düs­seldorf zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) weitergeleitet werden konnte. Zahlreiche Dokumente und eidesstattliche Versicherungen galt es zusammenzustellen. Indem die Familie immer wieder ihre Geschich­te erzählen musste beziehungsweise konnte, wurde allen klar, wie sehr sich die Hoffnungen auf ein gutes Ende des Kirchenasyls zuspitzen sollten. Diese Hoffnung wurde getrübt, als ich einen Anruf des zuständigen Ausländeramtes erhalten hatte. In diesem teilte man uns ohne Umwege mit, dass man das Kirchenasyl zwar dulden würde, aller­dings direkt nach einem entsprechen­den Bescheid des BAMF auch vollstre­cken würde, wenn dies notwendig wäre. Sollte heißen: Die Beamten hätten die Familie aus unserem Pfarrheim her­ausgeholt und direkt der Abschiebung zugeführt. Diese Angst begleitete uns die ganze Zeit über.

Zerreißprobe

Die Familie und viele andere waren hin- und hergerissen zwischen Hoff­nung und tiefer Verzweif lung. Diese innere Zerreißprobe konnte ich selber auch nur schlecht aushalten. Ich wollte nicht derjenige sein, der dieser Familie eine schlechte Nachricht hätte über­bringen müssen, der ihre Hoffnungen zerstört hätte. Ich zog mich schließlich in unsere Kirche zurück, entzündete eine Kerze, saß einfach da, schaute die Kerze in dieser dunklen Kirche an und sprach in dieser Stille zu Gott. Diese Begegnung mit unserem Gott hat mir neue Kraft gegeben. Ich wusste, dass er an unserer Seite ist und er uns auch in diesen Stunden nicht alleine lässt. Ein paar Tage später drohte die jüngste Tochter unter dem Druck der letzten Tage zusammenzubrechen. Man konn­te spüren, dass die Ungewissheit sie aufzufressen drohte. Ich habe sie wort­los an die Hand genommen und wir gingen in die Kirche. Wir entzündeten eine Kerze und saßen den Abend ein­fach in Stille dort. Das taten wir auch an den folgenden Tagen jeden Abend. Mal zu zweit, mal mit der ganzen Familie, mal mit weiteren Mitgliedern unserer Gemeinde. Aus diesen Aben­den zogen wir unsere Energie und dort konnten wir auch wortlos miteinander sein und wussten doch, was der andere empfand.

Die Entscheidung

Drei Wochen nach Beginn des Kirchen­asyls stand ich an einer Supermarkt­kasse, um meine Einkäufe zu bezahlen, da erreichte mich der entscheidende Anruf des begleitenden Rechtsanwal­tes. Er wusste als erster, dass dieses Kirchenasyl erfolgreich sein sollte. Die zuständige Härtefallkommission entschied zu Gunsten der Familie: Sie durfte in Deutschland bleiben und sollte nicht abgeschoben werden. Kurze Zeit später erreichte mich eine E-Mail mit den entsprechenden Informationen – nun war es offiziell. Wir konnten es der Familie sagen. Als wir im Pfarr­heim alle zusammengeholt hatten und die Entscheidung verkündeten, konnte man „die Steine purzeln hören“. Die Erleichterung war unbeschreiblich und es dauerte eine ganze Zeit, bis sich alle wieder gefangen hatten. Es war ein tolles Gefühl. Auch an diesem Abend entzündeten wir eine Kerze in der Kirche. Doch diesmal war es anders – die Dankbarkeit war in Gesängen und Gebeten spürbar.

Tränen der Freude

Um der Familie auch ein äußeres Zeichen der Sicherheit zu geben, bin ich mit ihr am nächsten Tag direkt zur zuständigen Ausländerbehörde gefahren, um die Ausweise der Familie in Empfang zu nehmen. Eigentlich sollte es eine erfreuliche Fahrt sein, so dachte ich zumindest, aber man konnte die Anspannung fühlen. Im Amt angekommen, konnte ich dann auch verstehen, warum diese Anspan­nung so groß wurde. Sollte es doch in das Gebäude gehen, in dem alles begonnen hatte. Als sie ihre Ausweise dann in den Händen hielten, entluden sich bei allen die Anspannungen der letzten Wochen und Tränen der Freude kullerten von unseren Gesichtern. Die Familie konnte nun wieder in ihre alte Unterkunft zurückkehren und wir das Kirchenasyl lösen. Eine aufregende und bewegende Zeit für viele war vorbei. Auch heute noch lebt die Familie in unserer Gemeinde und fühlt sich mit der Gemeinde verbunden.

Die Folgen für die Flüchtlingsarbeit

Nach dem erfolgreichen Kirchenasyl wurde es in unserer Gemeinde und in unserer Stadt nicht ruhiger. In den nächsten Wochen erreichten immer mehr Menschen unsere kleine Stadt. Immer mehr Flüchtlinge veränderten das Bild und die Identität unserer Stadt. Dies war mitunter auch schon erlebbar, bevor wir für die Familie das Kirchen­asyl übernommen hatten, aber doch war etwas Entscheidendes anders: die innere Haltung. Viele Gemeindemitglieder haben sich bereits vor unserem Kirchenasyl in unterschiedlichster Art und Weise für ankommende Flüchtlinge engagiert. Ich glaube aber, dass unser Kirchenasyl die Haltung dahingehend verändert hat, dass wir erkannten, dass wir nicht nur als Bürger, sondern als Christen in unserer Stadt und mit allen Res­sourcen, die wir als Kirchengemeinde haben, gefordert und aufgefordert sind zu helfen. Es entstand eine andere Atmosphäre des Umgangs miteinander. Es wurde offener miteinander gespro­chen und neue Möglichkeiten ins Auge gefasst. Selbst bisher geglaubte „Tabus“ wurden als Option in die Überlegungen einbezogen. So gab sich unser Kirchenvorstand beispielsweise den Auftrag, alle Räum­lichkeiten (ehemalige Pfarrhäuser, Pfarrheime …) einmal dahingehend zu überprüfen, ob eine Nutzung durch Flüchtlinge möglich wäre. Selbst die langfristige Anmietung eines leerste­henden Hauses oder die Überlassung eines ganzen Pfarrheimes galt als mög­liche Option. Es wurden Dinge offen besprochen, was ohne diese Haltung vermutlich nicht so möglich gewesen wäre. Es entstanden die unterschied­lichsten Projekte und Hilfestellungen für Flüchtlinge. Unsere Pfarrheime wurden nun nicht mehr nur als Ort der Begegnung für Gemeindemitglieder genutzt, sondern vielmehr zu einem wichtigen Ort der Flüchtlingsarbeit in Vreden.

Eine Flüchtlingsunterkunft

Das Konzept der Stadt Vreden sieht eine dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge vor. Dies bedeutet, dass es nicht eine große Sammelunterkunft gibt, sondern dass viele kleinere Un­terkünfte über die Stadt verteilt sind. Damit dies möglich ist, braucht es allerdings genügend freien Wohnraum. Es zeigte sich, dass dies eine der größ­ten Herausforderungen werden würde, denn es kamen schneller Flüchtlin­ge, als freier Wohnraum geschaffen werden konnte. Die Stadtverwaltung kam an ihre Grenzen – sie brauchte dringend Unterkünfte. Die Stadtver­waltung wusste, dass wir in der Zeit des Kirchenasyls einen Teil unseres Pfarrheimes einer Familie zur Verfü­gung gestellt hatten, und so kam die Frage auf, ob wir dies nicht erneut tun könnten. Noch am gleichen Tag organi­sierten wir für alle Gruppen, welche die Räume bisher nutzten, eine Alterna­tive und haben schließlich die Räume wieder für Familien hergerichtet. Zwei Tage später zogen drei Familien mit kleinen Kindern in unser Pfarrheim ein. Heute – ein Jahr später – leben diese immer noch dort.

Wie lebt es sich mit Flüchtlingen unter einem Dach?

Anfangs war es für alle Beteiligten eine Herausforderung, denn nun musste man nicht nur Rücksicht auf andere Gruppen nehmen, sondern auf ganze Familien. Auf einmal stehen Fragen wie etwa „Wann machen die Kinder Mittagsschlaf?“ im Vordergrund. Es galt, gegenseitigen Respekt und Frei­räume zu schaffen. In meiner Arbeit mit Flüchtlingen und Helfern spüre ich immer wieder (gerade wenn es neue Unterstützer sind), dass es beim Erstkontakt eine Hemmschwelle gibt. Sie wissen nicht so wirklich, was sie erwartet und wie dieser Erstkontakt sein wird. Fragen wie „Wie spreche ich denn mit denen, wenn die kein Deutsch können?“ oder „Darf ich der muslimischen Frau die Hand geben?“ höre ich immer wieder. Man kann dann förmlich spüren, wie diese Hemmschwelle fällt, wenn der Erstkontakt erfolgt ist. Wie Kommuni­kation beispielsweise gelingen kann, auch wenn das Gegenüber vielleicht kein Deutsch oder Englisch kann. Dass auch, wenn das Gegenüber aus einer anderen Kultur kommt, es doch ein ganz normaler Mensch ist, der tickt wie jeder andere auch. Inzwischen haben sich viele Gemeindemitglieder an unsere Flüchtlingsfamilien im Pfarrheim gewöhnt. Die anfänglichen Berührungsängste, gerade bei älteren Gemeindemitgliedern, sind verf logen und es kann sogar passieren, dass die Skatrunde der Herren um ein paar Flüchtlinge erweitert wird oder man gegenseitig Kochrezepte austauscht. So sind die Familien inzwischen sehr gut ins Gemeindeleben integriert und fühlen sich angenommen. Erstaunlich finde ich, dass sich auf­grund der unterschiedlichen Kultur neue Räume öffnen, sind doch zwei Fa­milien muslimisch. Ich erinnere mich an einen eindrucksvollen Moment während unserer „offenen Weihnacht“. Mehr als 100 Menschen haben sich in unserem Pfarrheim am Heiligen Abend getroffen, um diesen besonde­ren Abend in Gemeinschaft zu ver­bringen. Unter ihnen auch knapp 40 Flüchtlinge, davon 25 Muslime. Dieser Abend war für alle eine wundervolle Bereicherung. Es gab spontan syrische Gesänge und das Weihnachtsevangeli­um wurde neben Deutsch auch in Eng­lisch und Arabisch vorgelesen. An den einzelnen Tischen gab es, so gut es die Verständigung zuließ, eine angeregte Unterhaltung über die verschiedenen Traditionen rund um das Weihnachts­fest. Es war ein Abend der gegenseiti­gen Wertschätzung und Toleranz.

Umgang mit Konflikten und kritischen Stimmen

Der Ehrlichkeit halber sei nicht verschwiegen, dass nicht immer alles „rund“ läuft. Natürlich kommt es im Zusammenleben der Familien zu Unstimmigkeiten, zu Konf likten und Streitereien. In der Regel lassen sich diese aber in einem offenen und ehrli­chen Gespräch klären. Auch in unse­rer Gemeinde gibt es einige kritische Stimmen. Sie finden es nicht gut, dass unser Pfarrheim nun nur noch „ein­geschränkt“ für die Gemeindearbeit genutzt werden kann. Andere hingegen machen auf einen wichtigen Punkt aufmerksam. In persönlichen Gesprä­chen erlebe ich immer wieder, dass die Menschen nicht etwas gegen die Flüchtlingshilfe an sich haben, sie er­innern aber daran, dass es noch weitere Bedürftige in unserer Stadt gibt, die nicht aus dem Auge verloren werden sollten. Das ist ein wichtiger Aspekt für unsere Caritas-Arbeit.

 Erschienen in: Unsere Seelsorge 12/16